Der Standard berichtet über „bedrohliche“ Corona-Demos im steirischen Gleisdorf.
Der Standard gilt in Österreich als die Zeitung für das gehobene Publikum.
Zielgruppe sind Leser, die sich als gebildet, intelligent und weltoffen empfinden. Gesellschaftspolitisch steht man weit links, aber was das bedeutet, hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Links zu sein bedeutete früher, kritisch gegenüber dem Establishment zu sein, insbesondere dem Wirtschaftsestablishment. Heute ist man angepasst, denn man ist erfolgreich oder am Weg nach oben.
Toleranz ist eines der großen Schlagwörter dieser Gruppe. Toleranz gegenüber anderen Ländern, Kulturen, Religionen und vielem, was früher als verwerflich galt, ist selbstverständlich. Die Toleranz endet allerdings abrupt bei ungewünschten politischen Auffassungen. Rosa Luxemburgs „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ war lange das Motto linker Bewegungen am Weg zur Macht. Nach Eroberung wichtiger Schlüsselpositionen in Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft stellt sich die Lage anders dar.
Jahrzehntelang dominierte die politische Linke öffentliche Proteste. Da schwärmte man noch von der Zivilgesellschaft, die durch ihr Engagement das politische Leben maßgeblich mitbestimmt, die ihre Rechte mit Besetzungen, Blockaden, Demonstrationen wahrnimmt, verteidigt oder darum kämpft. Druck von der Straße war links.
Auf einmal ist alles anders. Erstmals formieren sich Großdemos, die nicht durch irgendeinen Flügel des linken Spektrums organisiert und unterstützt werden.
Vor kurzem war das noch undenkbar.
Wie reagiert man darauf? Ohne zu zögern greift man zur vermeintlich effektivsten Waffe im Arsenal: man beschwört NS-Analogien, manchmal subtiler – statt „gehen“ verwendet man das militärischer klingende „marschieren“ -, manchmal plumper, wenn man daran erinnert, „was solche Fackelzüge historisch bedeuten“. Aber wann ist ein Protest mit Lichtern ein „Lichtermeer“, wann ist er ein „Fackelzug“?
Die Corona-Proteste werden von einem breiten Querschnitt durch alle Bevölkerungsschichten getragen. Viele der Teilnehmenden sind das erste Mal politisch aktiv und waren noch nie zuvor auf einer Demonstration. Sie sind politisch oft unerfahren und sammeln so ihre ersten Erfahrungen.
Der Standard unterstellt den Corona-Demonstranten (im Standard-Forum häufig herabwürdigend als „Schwurbler“ bezeichnet) Wissenschaftsferne, aber wenn progressivere Kräfte aus den eigenen Reihen behaupten, es gäbe mehr als 100 biologische Geschlechter, Männer können Kinder gebären und als Männer geborene Menschen können bei Sportbewerben als Frauen teilnehmen, wenn sie einige Minimalkriterien erfüllen, dann kommt dazu keinerlei Widerspruch, weder vom Standard selbst noch von der Leserschaft.
Der Standard versucht uns ja auch schon seit Jahrzehnten davon zu überzeugen, dass nichthomogene Gesellschaften viel besser funktionieren als homogene, eine Aussage, die sowohl wissenschaftlich als auch praktisch vielfach widerlegt ist. Ivermectin wird dann als Pferdeentwurmungsmittel bezeichnet, was nicht völlig falsch ist, aber jedenfalls unterschlägt, dass die Arznei sehr wohl für Menschen zugelassen ist, auch schon lange angewendet und lediglich bei Covid nicht empfohlen wird.
Wie man sieht, endet die Liebe zur Wissenschaft in vielen Fällen genauso schnell wie die politische Toleranz.
Schließlich wirft man den Demonstranten vor, sie wären zum Haus des Bürgermeisters gezogen, hätten dort Grabkerzen angezündet und jemand hätte gerufen „holt ihn heraus“. Tatsächlich können solche Aktionen eine schlechte Optik hinterlassen, denn weder politische Mandatare noch politische Gegenspieler sollten eingeschüchtert und bedroht werden. Hier scheint der Standard aber ganz andere Maßstäbe anzulegen als bei Demonstrationen des linken Spektrums. Die Demos gegen den Akademikerball mit ihren Gewaltorgien kommen einem in den Sinn und der Standard hat natürlich auch niemals die BLM-Demos verurteilt, die in den USA ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt und mehr als einem Dutzend Menschen das Leben gekostet haben.
Diese Vorfälle fand der Standard nie „bedrohlich“. Der Verdacht drängt sich auf, dass das „Bedrohliche“ für den Standard die Möglichkeit ist, dass die linke Vorherrschaft auf der Straße gebrochen werden könnte. Einige Vertreter der Corona-Bewegung haben politische Erfahrung, aber der großen Masse der Anhänger fehlt sie weitgehend. So sind die Ideen und Aktionen nicht immer treffsicher und verletzen manchmal politische Verhaltensregeln. Vor Kliniken zu demonstrieren und medizinisches Personal auszubuhen würde der Corona-Bewegung wohl kaum Sympathien bringen, aber wer seine ersten Gehversuche macht, wird anfangs stolpern. Das war auch bei allen anderen politischen Kräften in ihrer Anfangsphase so. Viele heutige Beobachter des politischen Geschehens sind sich zum Beispiel nicht bewusst, dass die Entstehungsgeschichte der grünen Parteien ähnliche, vielleicht noch schlimmere Geschichten zu bieten hat. Der Standard befürchtet wohl, die jetzige Protestbewegung könnte sich als ernsthafte politische Kraft auf Dauer etablieren. Die Reaktion lässt ein großes Maß an Doppelstandards erkennen.